LEIDENSCHAFT UND PRÄZISION 2.0
Beginnen wir mit dem Verschwinden des Realen. Über den Mord an der Realität im Zeitalter der Medien, des Virtuellen und der Netze ist genug gesagt worden – ohne daß man sich allzusehr die Frage gestellt hätte, wann das Reale denn zu existieren begann. Wenn man nun aber genauer hinschaut, sieht man, daß die reale Welt in der Moderne mit dem Entschluß beginnt, sie umzuwandeln, und zwar durch Wissenschaft, die analytische Erkenntnis der Welt und deren technologische Anwendung (…). Das ist der Moment, da der Mensch sich der Welt zum einen entledigt, indem er sie analysiert und verwandelt, ihr gleichzeitig aber auch Realitätskraft verleiht. Man kann also sagen, daß die reale Welt paradoxerweise genau zu jenem Zeitpunkt zu verschwinden beginnt, da sie zu existieren beginnt.
Jean Baudrillard, Warum ist nicht alles schon verschwunden?, Berlin 2008, S. 6f
Warum überrascht es kaum, dass die neuesten Arbeiten des Bildhauers Helmut Nindl digital sind und ausgearbeitet als – manchmal auch sich überlagernde – Prints in tiefen, guckkastenartigen Rahmen präsentiert werden? Entmaterialisierung und die Verwendung von Kodierungen ist in seinem Oeuvre trotz der Verwendung klassischer Materialien wie Naturstein und Beton bereits seit Jahrzehnten ein Thema. 1991 entstand die Arbeit „Klappstuhl gestürzt“, die aus einem handelsüblichen Klappsessel und dessen (aus Schichtholz geschnittenem) Schatten besteht. Nur dadurch, dass in der Schattenfuge Moos wächst, kann der Schriftzug des 1992 geschaffenen Gedenksteins für den Direktor des Kramsacher Museums Tiroler Bauernhöfe gelesen werden und im Jahr 2000 wurden einem Bildstock in Mariathal gläserne SOS-Morsezeichen eingelegt. Die Verwendung von Glas und der Einsatz von Wasser und Licht stehen schon seit langem in Kontrast zum Stein. Zeitliche Dimensionen werden nicht nur bei den Sonnenuhr-Objekten immer mitgedacht. Die neuen Werke zeigen Fingerprints, QR-Codes und andere verschlüsselte Zeichensysteme.
Quick Response Codes, die eigentlich für die Logistik entwickelt wurden, sind heute aus der Werbung, aber zum Teil auch aus der Kunstvermittlung nicht mehr wegzudenken. In einer quadratischen Tabelle stellen schwarze und weiße Punkte die kodierten Daten binär dar und ergeben ein reizvolles Muster, das mittels einer Applikation eines jeden Smartphones gescannt und entschlüsselt werden kann. Das Reale wird also durch Zeichen des Realen ersetzt.(1) Beziehungsweise übersetzt ein Raster dahinterliegende Information – ein Bild stellt einen Text dar.
Helmut Nindl, der QR-Codes sogar als Objekte begreift, verwendet die neuesten Technologien, findet Gefallen an der Abstraktion und dem Verhältnis der Flächen zueinander, die dann durchaus in der Lage sind Poetisches zu vermitteln. Scannt man beispielsweise eine leuchtgrün/schwarz/weiße QR-Grafik des Künstlers ein, erhält man ein Zitat des Boxers und Kunsthistorikers Jan Hoet: „Boxsport und Kunst vereint etwas sehr Wichtiges: Leidenschaft und Präzision“. Auch Pablo Picasso, Jean Cocteau, Salvador Dalí oder Wassily Kandinsky kommen mit ausgewählten Zitaten zu Wort, aber die von dem Documentakurator (1992) Hoet genannten Eigenschaften, die das Boxen und die Kunst vereinen würden, treffen ebenfalls auf die künstlerische Herangehensweise von Helmut Nindl zu, selbst wenn er – dem Wissen der Autorin nach – keine Kampfsportart ausübt: Präzision und Leidenschaft in der Ausführung, der Wahl der Materialien und Techniken, in der Recherche und den immer mitschwingenden philosophischen Überlegungen.
Es gibt im Sinne der Unverwechselbarkeit nichts Persönlicheres als einen Fingerabdruck. Gleichzeitig wird der Einsatz von Fingerprints an Stelle von beziehungsweise in Ergänzung zu Fotos bei Reisedokumenten als Akt der Entpersonalisierung im Sinne der totalen Durchschaubarkeit wahrgenommen. Helmut Nindl nennt seine Grafikserie von Fingerabdrücken nicht nur „Portraits“, sondern nimmt sie als Form eines geistigen Abstraktionsprozesses auch tatsächlich als Reihe von Menschenbildern wahr. Wenn man in der Lage ist, den Code, der unter dem überdimensionalen Abdruck geschrieben steht, zu dechiffrieren, würde man auf die dargestellte Person schließen können. Die Buchstaben könnten Initialen sein, die darauffolgende zweistellige Zahl ein Geburtsjahr und die weiteren Buchstaben lassen auf den verwendeten Finger schließen. Das Abbild eines Menschen zeigt sich in unterschiedlichen Aggregatszuständen. Helmut Nindl fasziniert in diesem Zusammenhang das intellektuelle Vorgehen des Konzeptkünstlers Joseph Kosuth, der in den 60er Jahren einen Stuhl, die Fotografie desselben und die Beschreibung eines Stuhles aus einem Lexikon als eine Art Dreifaltigkeit ausstellte.(2) Bei Nindl sind die Ebenen verschiedene Kodierungen.
Wie bei seinen skulpturalen Werken, die die Frage nach dem Außen und Innen, nach Hülle und Kern und nach positiven und negativen Formen plastisch erörterten, geht es dem Künstler auch bei den neuen grafischen Arbeiten um das Visualisieren einer Reflexion. Strukturen begegnen sich und Raster bezeichnet er als Bausteine des Lebens. Soziologische und psychoanalytische Theorien beschäftigen ihn daher ebenso häufig wie ästhetische und wahrnehmungspsychologische Fragestellungen.
Die Arbeit „Rasenstück³“(3) bezieht sich auf die Theorie der drei Strukturbestimmungen des Psychischen von Jaques Lacan, das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. Wobei das „Reale“ in diesem Fall, wie der Künstler beschreibt, nicht als Objekt, sondern als Empfindung, Wahrnehmung, Beeindruckendes oder Bewegendes des Realen, also des Vorhandenen, aufgefasst wird – als ganzheitliche Wahrnehmung, als Erlebnis.
Enden wir mit dem Verschwinden des Realen (im Sinne des Materiellen): Helmut Nindls Arbeiten werden mittlerweile meist nicht mehr in Stein gemeißelt, sondern digital erstellt. Der Weg dorthin schien vorgezeichnet und Recherche, Analyse und technische Möglichkeiten haben ihn zu anderen Ausdrucksformen geführt, deren Realitätskraft unbestritten ist.
So stellt eine Serie von QR-Code-Arbeiten die Fragen aller Fragen: „Wer bin ich“, „Woher komme ich“ und „Wohin gehe ich“.
1.) Joseph Kosuth, One and Three Chairs, 1965
2.) http://www.moma.org/collection/browse_results.php?criteria=O%3AAD%3AE%3A3228&page_number=1&template_id=1&sort_order=1, Zugriff: 26.06.2013
3.) http://www.nindl.info/index.php?eid=224&nav=w&index=2
Mag. Ingeborg Erhart - Tiroler Kunstpavillon, Geschäftsleitung, Kuratorin, Innsbruck (2014)
HELMUT NINDL - Bildhauer/Sculptor
6233 Kramsach
Wittberg 14
Österreich
Mobil: +43-(0)676-3301506
Fax: +43-(0)5337-93635
e-Mail: h.nindl@chello.at